TURN-WM 2025 | JAKARTA
Balanceakt zwischen Neutralität und Nähe

Die Rückkehr russischer Turnerinnen und Turner auf die internationale Bühne sorgt rund um die Weltmeisterschaften von Jakarta weiter für eine anhaltende Debatte über die Glaubwürdigkeit des Weltturnverbands FIG. Im Zentrum steht FIG-Präsident Morinari Watanabe, der bei einem Besuch in Moskau im Oktober den früheren Olympiasieger Nikita Nagornyy öffentlich begrüßte – eine Szene, die vielerorts als Signal der Annäherung gedeutet wurde. Watanabe war nach Russland gereist, um über die Wiederzulassung neutraler Athleten zu beraten. Der Empfang durch Nagornyy, der eng mit dem Militär verflochten ist, gilt Beobachtern als Symptom einer zunehmend unklaren Grenzziehung zwischen Sport und Politik.

Steht wegen seiner Rolle im Umfeld der Kriegspropaganda auf den Sanktionslisten der EU, der USA, Kanadas und Großbritanniens: Olympiasieger Nikita Nagornyy.

Nagornyy zählt zu den bekanntesten russischen Turnern der vergangenen Dekade. Er gewann WM-Gold im Mehrkampf, führte das russische Team 2021 in Tokio zu olympischem Gold und prägte das Männerturnen mit technischen Innovationen. Abseits der Geräte jedoch wurde er zu einer hochpolitischen Figur. Seit seinem Eintritt in die russische Nationalgarde 2016 stieg er zum Leiter der Jugendorganisation Junarmija auf – einer paramilitärischen Bewegung unter dem Verteidigungsministerium. Diese Gruppierung tritt bei patriotischen Großveranstaltungen auf, rekrutiert Jugendliche für militärische Ausbildung und wird von westlichen Regierungen mit der Entführung und «Umerziehung» ukrainischer Kinder in Verbindung gebracht. Wegen seiner Rolle im Umfeld der Kriegspropaganda steht Nagornyy auf den Sanktionslisten der EU, der USA, Kanadas und Großbritanniens.

Der Weg zurück auf die Weltbühne

Während der frühere Bundesligaturner der TG Saar selbst weiterhin von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen bleibt, hat die FIG den Weg für andere russische und belarussische Sportlerinnen und Sportler geebnet. Seit 2023 dürfen sie als sogenannte «neutrale Athleten» antreten, sofern sie keine militärischen oder politischen Bindungen nachweisen. Lange Zeit hatte der russische Verband diese Bedingungen abgelehnt, nun hat er erstmals einer begrenzten Rückkehr zugestimmt.

Laut FIG wurden bislang 17 Kunstturnerinnen und -turner sowie rund 100 weitere Sportlerinnen, Betreuer und Funktionäre aus den verschiedenen Disziplinen zugelassen. Prominenteste Rückkehrerin ist Angelina Melnikowa, Olympiasiegerin von Tokio und eine der führenden Figuren im internationalen Turnen. Sie gilt als sportliches Aushängeschild, aber auch als Prüfstein für das Neutralitätskonzept: Melnikowa trainiert im Armeesportklub ZSKA, einer Einrichtung mit enger Verbindung zum russischen Verteidigungsministerium, und wurde bei einer Siegesparade mit dem Symbol «Z» fotografiert. Obwohl sie sich selbst nicht politisch äußerte, steht ihre Zulassung im Widerspruch zu den eigenen Neutralitätskriterien des Weltverbands, die jede militärische Verbindung ausschliessen.

Präsident Morinari Watanabe praktiziert den Spagat zwischen Macht und Moral. Kritiker werfen der FIG jedoch mangelnde Transparenz im Umgang mit Russland vor.
Zwischen Prinzipien und Pragmatismus

Die Umsetzung dieser Regeln bleibt undurchsichtig. Die FIG veröffentlichte lediglich eine Liste genehmigter Namen, ohne zu erläutern, warum einzelne Athleten zugelassen oder ausgeschlossen wurden. Kritiker sehen darin ein Zeichen mangelnder Transparenz und werfen dem Verband vor, sportliche Erwägungen über klare ethische Standards zu stellen. Besonders umstritten ist, dass einige russische Athleten trotz offensichtlicher Nähe zu staatlichen oder militärischen Einrichtungen zugelassen wurden, während andere – wie Viktoria Listunowa oder Vladislawa Urasowa – keine Startgenehmigung erhielten, weil sie zuvor bei Kundgebungen mit Kriegssymbolen aufgetreten waren.

Die Unschärfe dieser Entscheidungen spiegelt ein tieferes Dilemma wider: Nach zwei Jahren internationaler Isolation drängt die FIG auf eine Rückkehr Russlands, um die sportliche Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Gleichzeitig riskiert sie, ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben, wenn Neutralität zum politischen Feigenblatt wird.

Ein Verband zwischen Macht und Moral

Für viele Beobachter ist das freundschaftliche Auftreten von Watanabe und Nagornyy mehr als ein symbolischer Fehltritt. Es steht für ein System, das den Anspruch auf Unabhängigkeit mit der Realität geopolitischer Interessen abgleicht. Dass der Weltverband weder seine Auswahlkriterien offenlegt noch überprüfbare Standards anwendet, verstärkt den Eindruck von Inkonsequenz.

Der Fall zeigt exemplarisch, wie schwer es internationalen Sportorganisationen fällt, moralische Prinzipien mit pragmatischer Verbandsarbeit zu vereinen. Russland bleibt eine sportliche Grossmacht – und die Frage, unter welchen Bedingungen seine Athletinnen und Athleten zurückkehren dürfen, wird über das Turnen hinaus zum Prüfstein für den Weltsport.

Alle Informationen zu den Weltmeisterschaften in Jakarta (Indonesien)

Event Europameister Silbermedaille Bronzemedaille
Mehrkampf Daiki Hashimoto Zhang Boheng Noe Seifert
Boden Jake Jarman Luke Whitehouse Carlos Edriel Yulo
Pauschenpferd Hong Yanming Mamikon Khachatryan Patrick Hoopes
Ringe      
Sprung      
Barren      
Reck      
Event Europameister Silbermedaille Bronzemedaille
Mehrkampf Angelina Melnikova Leanne Wong Zhang Qingying
Sprung Angelina Melnikova Lia-Monica Fontaine Joscelyn Roberson
Stufenbarren Kaylia Nemour Angelina Melnikova Yang Fanyuwei
Schwebebalken      
Boden      
vor 21 Stunden
von Nils B. Bohl

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