DOKUMENTATION
Ehemalige DTL-Turnerin Pauline Tratz dreht TV-Doku

Trotzdem hat Tratz persönliche Einblicke einbringen können, die der Dokumentation eine zusätzliche Perspektive eröffnet haben. So wird im Film deutlich, dass die Probleme kein Einzelfall sind. Strukturen, die Kinder und Jugendliche viel zu früh in ein starres System pressen, haben Missstände begünstigt. «Das extrem junge Alter ist ein grosses Thema. Dinge werden sehr früh normalisiert, weil es alle im Umfeld genauso machen. Man verbringt den Grossteil seines Alltags in dieser Welt, übernimmt Glaubenssätze und entwickelt das Gefühl, dass es so laufen muss», erklärt sie. Ehrgeiz, Disziplin und das ständige Überschreiten von Grenzen seien fest in der Kultur verankert gewesen – über Jahre hinweg, auch geprägt durch internationale Vorbilder. Diese Haltung habe eine ganze Generation von Athletinnen und Athleten beeinflusst, die Missstände nicht hinterfragten, sondern hinnahmen, weil sie zur Normalität erklärt worden waren.

Liebe zum Sport trotz Schmerz
Ihr Blick geht über Deutschland hinaus. Die Schweiz etwa habe konsequent Strukturen verändert und damit Schritte eingeleitet, die hierzulande noch ausstehen. «Bei uns bleibt vieles auf dem Papier. Es reicht nicht, Werte niederzuschreiben – man muss sie auch leben und konsequent durchsetzen», sagt Tratz. Trotz aller Schattenseiten zieht sich ein roter Faden durch die Aussagen der Athletinnen: ihre Liebe zum Sport. «Turnen ermöglicht einzigartige Erfahrungen. Man wächst an sich selbst, spürt den eigenen Körper, erreicht Grenzen, die man sonst nicht erlebt. Und dann dieser Moment, auf einer grossen Bühne zu zeigen, was man jahrelang trainiert hat – das ist etwas ganz Besonderes», betont die 26-jährige Karlsruherin.

Die Dokumentation lebt von den Stimmen der Athletinnen selbst. Nach Beispielen wie tägliches Wiegen oder rigide Kontrolle musste die Regisseurin nicht lange suchen. «Die Turnerinnen haben diese Szenen selbst erzählt – offen, ehrlich, manchmal sehr schmerzhaft. Da hat man sofort gespürt: Das sind die Momente, die wirklich Spuren hinterlassen haben», erzählt sie. Erschüttert war Tratz von diesen Schilderungen nicht – und genau darin liegt für sie ein Problem: «Viele Vorwürfe kamen einem doch bekannt vor. Man dachte: Ja, so lief das teilweise. Auch ich habe Dinge ignoriert», gibt sie zu. Natürlich hätten einzelne Geschichten berührt. «Aber wirklich überrascht oder erschüttert war ich nicht – was zeigt, wie sehr dieses System zur Normalität geworden ist.»
Besonders bewegend waren die offenen Worte von Elisabeth Seitz und Janine Berger. «Ich finde es unglaublich stark, dass sie ihre Geschichten geteilt haben. Das war sicher nicht leicht. Aber genau dadurch wird sichtbar, wie wichtig es ist, über solche Erfahrungen zu sprechen. Ich hoffe, dass ihre Offenheit ein Signal setzt: Wir müssen reagieren, wir müssen etwas ändern», betont Tratz. Am Ende geht es für sie aber nicht um Wut oder Empathie allein. Sie wünscht sich etwas Tieferes. «Ich hoffe, dass der Film zum Nachdenken anregt. Dass man versteht, wie komplex und vielschichtig diese Systeme sind. Und dass man begreift: Es geht nicht nur um Strukturen im Sport, sondern auch um Muster in unserer Gesellschaft», fasst sie Ziel und Hoffnung ihrer Dokumentation noch einmal zusammen.
Die Dokumentation ist in der ARD-Mediathek zum Anschauen weiterhin verfügbar: