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Preis des Erfolgs? «Athlet A» rüttelt die Turnwelt wach

Eine Dokumentation auf Netflix wühlt gerade Turnerinnen und Turner weltweit auf. Viele Athleten reagierten in den sozialen Medien bereits auf den Film rund um den Missbrauchsskandal, der 2016 das US-Turnen erschütterte. «Athlet A» ist ein ebenso verstörender wie aufschlussreicher Dokumentarfilm, der aber nicht nur den 2018 zu 40 bis 125 Jahren Gefängnis verurteilten, ehemaligen Mannschaftsarzt Larry Nassar und seine Opfer beleuchtet. Er wirft grundsätzliche Fragen auf und auch einen sehr aufmerksamen Blick auf das System innerhalb des US-Verbandes. Dort schütze Präsident Steve Penny - ein ehemaliger Marketingleiter - zum Vorteil von Nassar nicht die Turnerinnen, sondern vor allem die Marke «USA Gymnastics», die dem Verband 12 Millionen Dollar pro Jahr einbrachte.

GES\Edith Geuppert

«Habe gerade diese Doku mit Tränen in den Augen gesehen und mich gefragt: wie viel muss eine Turnerin erdulden, um Teil einer Nationalmannschaft zu sein? Machtmissbrauch, Ernährungsstörungen, sexueller Missbrauch, Misshandlung? Wie viele Dinge werden mittlerweile als normal betrachtet, weil sie Teil des Weges sind?», fragt sich zum Beispiel Ailen Valente in einem Facebookbeitrag. Die 24-Jährige stand 2016 in Rio noch auf der Matte, heute arbeitet sie als Trainerin. Und gibt sich selbst gleich die Antwort: Sie habe zwar nie sexuellen Missbrauch erlitten, «aber ich habe hunderte von Situationen von Machtmissbrauch eines Systems, auferlegten Regeln und Ernährungsstörungen erlebt», erklärte sie.

Und genau dies ist auch eine Stelle, die Bonni Cohen und Jon Shenks in ihrer Dokumentation aufgreifen. «Ich hasse diesen Satz, aber ich würde mich tatsächlich auf die Behandlung freuen, weil Larry der einzige nette Erwachsene innerhalb des «USA Gymnastics»-Personals war, an den ich mich erinnern konnte», erzählt die US-Turnerin Jamie Dantzscher im Film. «Er war wirklich der einzige nette Erwachsene dort.»

Als Trainerin will Valente daher einen anderen Weg gehen. Erfolg um jeden Preis will sie nicht. «Alle meine Athleten werden den Sport mit einer korrekten Behandlung und der Vermittlung der richtigen Wertvorstellungen genießen. Von Respekt über Kameradschaft bis hin zu Themen wie Ernährung», schreibt sie. Alle im Sport seien sich bewusst, dass viele Dinge am Ende von einem Ergebnis abhingen. «Davor aber sind wir in erster Linie Menschen», formulierte sie eindringlich. «Wir sind Menschen und keine Roboter».

Auch in «Athlet A» wird dieser Zwiespalt von Cohen und Shenk überzeugend erzählt. Schmerz und Mut der Betroffenen werden fühlbar, ohne den Blick auf das große Ganze zu verlieren. Als Ursprung des Übels macht der Film Béla und Márta Károlyi aus, die 1981 mit dem Triumph ihres damals 14-jährigen rumänischen Superstars Nadia Comăneci bei den Olympischen Sommerspielen 1976 drei Goldmedaillen gewannen. Von diesem Moment an änderte sich das Gesicht des Frauenturnes – bis heute. Waren in den 50er und 60er Jahren in den Wettkämpfe noch gestandene Frauen am Start, entwickelte sich das weibliche Turnen danach mehr und mehr zu einem Mädchen- und Teenagersport.

Nach ihrer Flucht von Rumänien in die USA, hätten die Károlyis auf ihrer Ranch in Texas begonnen mit einer Kompromisslosigkeit zu arbeiten, die sehr an die Ostblock-Methoden erinnert habe. Doch sie brachten Sieger hervor. Und so waren die Verantwortlichen in den USA bestrebt, deren ‹Schule der harten Schläge› zu importieren. «Athlet A» führt vor Augen, dass die «Károlyi-Methode» selbst eine Form des Missbrauchs war. Die Mädchen, die davon betroffen waren, mussten sich fast wie beim bekannten Stockholm-Syndrom den sadistischen Strapazen ihres Trainings stellen. Es war also nur natürlich, dass sie sich auch bei noch so verheerenderen Formen des Missbrauchs betäubten.

«Ich weiß, dass sich viele Turner mit dieser Dokumentation identifiziert haben. Und ich hoffe, dass dies in Zukunft etwas aus der Vergangenheit sein wird und dass es keine Ähnlichkeit gibt», schließt Valente ihre Zeilen. «Der Weg ist hart. Aber man muss ihn genießen dürfen, nicht erleiden müssen».

Und so ist und bleibt «Athlet A» nicht nur für die Argentinierin vor allem auch eines: Ein Beweis für die Beharrlichkeit und den Mut all derer, die vor Gericht aufstanden. Sich dem Mann zu stellen, der ihre Menschlichkeit verletzt hatte.

Die Dokumentation geht sogar noch einen Schritt weiter. Sie hält dem System des Sports einen Spiegel vor. Und liefert dabei Zeugnis einer Besessenheit ab, die den Missbrauch deckte - mitgetragen von einer Kultur, die um jeden Preis Gewinner haben wollte. Und so gibt «Athlete A» einer neuen Trainergeneration den Mut zur Veränderung. Eine Veränderung, die auch Valente in Zukunft mittragen wird.

04. Juli 2020
von Nils B. Bohl

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