Turn-EM | Leipzig
Mit Gänsehaut zur Silbermedaille

Die Begeisterung war greifbar, das Staunen groß, der Jubel überschäumend: Bei den Europameisterschaften in Leipzig hat eine Gruppe junger deutscher Turnerinnen vor eigenem Publikum Geschichte geschrieben – und das mitten hinein in die wohl größte deutsche Turnkrise seit Jahrzehnten. Helen Kevric, Karina Schönmaier, Janoah Müller, Silja Stöhr und Lea Marie Quaas überzeugten in einem dramatischen Mannschaftswettbewerb mit Präzision, Mut und außergewöhnlichem Teamgeist. Am Ende reichte es zu einer Medaille: der ersten silbernen und der zweiten Medaille überhaupt für ein deutsches Frauen-Team bei Europameisterschaften. Was diese Leistung besonders macht, ist nicht nur ihr sportlicher Wert. Es ist vielmehr das emotionale Umfeld, in dem sie zustande kam. In einem Verband, der zuletzt vor allem durch personelle Turbulenzen und strukturelle Debatten auffiel, wirkte dieser Erfolg wie ein Gegenentwurf: frisch, konzentriert, aufrichtig.

Die «Fab Silver Five» (vlnr.): Helen Kevric (MTV Stuttgart), Chefcoach Gerben Wiersma, Silja Stöhr (TG Mannheim), Lea Quaas (TSV Tittmoning-Chemnitz), Janoah Müller (TG Mannheim) und Karina Schönmaier (TSV Tittmoning-Chemnitz).
Ein Kollektiv wächst über sich hinaus

Wer die Turnerinnen in Leipzig beobachtete, sah keine Einzelkämpferinnen, sondern eine eingeschworene Gemeinschaft. «Es war, als hätten wir alle im selben Takt geatmet», beschrieb Schönmaier den Tag. Die 19-Jährige, die sich sowohl für das Sprung- als auch für das Bodenfinale qualifizieren konnte, war eine der stabilisierenden Kräfte im Team – und zugleich eine der emotionalsten. Ihre Freude wirkte echt, fast überwältigt, als sie auf dem Podium mit zitternden Händen nach der Medaille griff. «Ich habe das Publikum gespürt. Es hat mich getragen, besonders vor meinem letzten Sprung», sagte sie später in der Mixed Zone. In diesem Moment habe sie alles um sich vergessen».

Dass die Deutschen in der mit Spannung erwarteten Teamkonkurrenz nur der übermächtigen italienischen Mannschaft den Vortritt lassen mussten, überraschte selbst die Beteiligten. Zwar galt das Quintett als gut vorbereitet, doch mit einer Platzierung vor Frankreich hatte niemand ernsthaft auf dem Radar. «Ehrlich gesagt – nein», antwortete Kevric auf die Frage, ob sie damit gerechnet habe, nun eine Medaille um den Hals zu tragen. Zu viel sei im Vorfeld passiert, zu ungewiss war für sie der Saisonverlauf.

Für die Stuttgarterin war der Tag auch ein persönlicher Triumph. Es war ihre erste EM-Medaille bei den Senioren – und ein innerer Abschluss mit schwierigen Monaten. Nach den öffentlich gewordenen Vorwürfen gegen Trainer am Kunstturn-Forum Stuttgart hatte sie nicht nur sportliche Bezugspersonen verloren, sondern auch mediale Aufmerksamkeit ertragen müssen, die sie nie gesucht hatte. Eine Entschädigung für das alles sei die Medaille aber nicht. «Nein, so was kann man nicht wirklich rückgängig machen. Und es ist auch keine schöne Zeit gewesen, weil ich erstens kein Missbrauchsopfer bin oder sonst irgendwas. Ich hatte immer eine gute Beziehung zu meinen Trainern und ich bin traurig, dass es so geendet hat», betonte sie und packte sogar noch einen drauf: «Deswegen ist die Medaille auch ein Stück weit für sie, weil sie hinter der harten Arbeit stehen», erklärte sie.

Tanzend auf dem Podium, singend durch die Halle

Als die Platzierungen verkündet wurden und der Italo-Schlager «Sarà perché ti amo» durch die Arena hallte, verwandelte sich das Podium in eine Bühne des Überschwangs. Unten jubelten die Trainer mit, allen voran Tatjana Bachmayer, die ihren Gefühlen freien Lauf liess. Auch ihre Kollegen, Anatol Ashurkov und LaPrise Williams, umarmten sich und warfen die Arme in die Luft. Man sah dem Trainerteam an, wie sehr es mit diesem jungen Kader mitgefiebert hatte – und wie sehr es die Genugtuung nun genoss.

Die Athletinnen, sichtlich erschöpft, aber glücklich, suchten nach den richtigen Worten, um ihrer Gefühle Herr zu werden. Später am Abend wartete ein Wunschessen, das zum Song des Abends kaum hätte passender sein können: Spaghetti Carbonara. Kevric berichtete schmunzelnd, dass der Koch «immer ganz lieb» frage, was gewünscht sei, und Schönmaier verriet mit einem Lachen, dass ihre wahre Liebe ohnehin den Nudeln gelte

«Impostor» und innere Rituale

Was aber bleiben wird, sind die Vibes, die Kevric und ihre Teamgefährtinnen in Leipzig umgaben. Es war nicht allein die Turnkunst, die sie so stabil machte. Es war der Umgang miteinander. Denn die fünf jungen Frauen verbindet mehr als nur eine Disziplin. «Wir haben das gleiche Mindset», sagte Schönmaier. In Lehrgängen spielen sie zusammen, lachen, rätseln, beschreiben einander Wörter im beliebten Spiel «Impostor», bei dem stets eine Person nicht weiß, worum es geht. Und doch funktioniert es wie im Wettkampf. Einer hilft der anderen, ohne dass dabei der sportliche Anspruch verwässert.

Die Hierarchie? Aufgelöst. Die Erfahrung der früheren Generation? Respektiert, aber nicht glorifiziert. «Die Großen haben viel geleistet», sagt Schönmaier. «Aber wir Jungen haben auch gezeigt, dass es geht.» Man spürt: Niemand will freiwillig Platz machen, aber niemand beansprucht ihn den seinen um jeden Preis. Mit dieser Einstellung, mit dieser Leichtigkeit, aber auch mit einer beeindruckenden Disziplin ist ein neuer Ton im deutschen Frauen-Turnen hörbar geworden. Einer, der Hoffnung macht.

Alle Informationen zu den Europameisterschaften in Leipzig

Event Europameister Silbermedaille Bronzemedaille
Team Italien Deutschland Frankreich
Mixed Team Karina Schönmaier/Timo Eder Ruby Evans/Jake Jarman Manila Esposito/Lorenzo Minh Casali
Mehrkampf Manila Esposito Alba Petisco Ana Barbosu
Sprung Karina Schönmaier Valentina Georgieva Lisa Vaelen
Stufenbarren Nina Dewael Bettina Czifra Ana Barbosu
Schwebebalken Nina Dewael Ana Barbosu Sofia Tonelli
Boden Ana Barbosu Manila Esposito Alba Petisco
Event Europameister Silbermedaille Bronzemedaille
Team Großbritannien Schweiz Italien
Mixed Team Timo Eder/Karina Schönmaier Jake Jarman/Ruby Evans Lorenzo Minh Casali/Manila Esposito
Mehrkampf Adem Asil Leo Saladino Krisztofer Mészáros
Boden Luke Whitehouse Harry Hepworth Lorenzo Minh Casali
Pauschenpferd Hamlet Manukyan Mamikon Khachatryan Gabriele Targhetta
Ringe Adem Asil Eleftherios Petrounias Artur Avetisyan
Sprung Artur Davtyan Jake Jarman Nazar Chepurnyi
Barren Nils Dunkel Ian Raubal Timo Eder
Reck Robert Tvorogal Andreas Toba Anthony Mansard
27. Mai 2025
von Nils B. Bohl

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