KOMMENTAR
Turnen im Nebel der Moral
Ein Kommentar von Nils B. Bohl

Die WM von Jakarta wollte zeigen, dass Turnen global ist. Heraus kam ein Lehrstück über selektive Moral, politische Bequemlichkeit und einen Verband, der seine Prinzipien verbiegt. Sie hätte so schön werden können, diese erste Turn-WM in Südostasien. Neue Arena, neue Eindrücke, bunte Vielfalt. Stattdessen hat Jakarta gezeigt, dass der Sport inzwischen so biegsam ist wie seine Athleten – nur weniger aufrecht. Die indonesische Regierung verweigerte israelischen Athleten die Einreise. Der Weltverband FIG sah weg. Und während Israel draußen blieb, traten russische Athleten wieder auf. Unter neutraler Flagge, versteht sich. Neutralität – das neue Feigenblatt des Weltsports.

Dabei ist die Unterscheidung eigentlich ganz einfach: Israel wurde bei der WM in Jakarta ausgegrenzt, weil der Regierung des Gastgeberlands die gegebene Einladung nicht mehr als politisch opportun erscheint. Russland wurde seinerzeit ausgeschlossen, weil der Staat ein anderes Land überfällt. Das eine ist Ideologie, das andere ist Völkerrecht. Beides ist freilich Politik, aber nur eines ist konsequent. Wenn ein Weltturnverband diesen Unterschied nicht erkennt, hat er das Wort «neutral» endgültig abgeschafft. Die FIG berief sich auf «höhere Gewalt». Das klingt nach Erdbeben, nicht nach fehlender Haltung. Artikel 26.4 der FIG-Statuten schreibt klar vor: Wenn ein Mitgliedsverband kein Visum erhält, wird das Event abgesagt. Punkt. Doch weil man den schönen, neuen Austragungsort nicht verlieren wollte, wurden eben die Prinzipien geopfert – auf dem Altar der Logistik. Der Sport als Kulisse, nicht als Haltung.

Und bereits bevor die Verantwortlichen in Lausanne und Lausanne-Süd (so fühlt sich das Verhältnis zwischen IOC und FIG inzwischen an) über «Weltfrieden durch Sport» diskutierten, saß im Vorfeld der WM der ehemalige Olympiasieger Nikita Nagornyy, inzwischen Teil der russischen Nationalgarde, bereits gemeinsam mit FIG-Präsident Morinari Watanabe zusammen und lächelte in die Kameras. Das nennt man heute Dialog. So wundert es nicht, dass die WM in Jakarta aussah wie das, was sie war: groß, leer, bedeutungsschwer. Eine Arena für 15 000, die nicht einmal ansatzweise halb voll wurde. Turnen als globales Premiumprodukt – nur ohne Publikum. Man kennt dieses Phänomen auch aus anderen Sportarten. Und vielleicht ist gerade das die Ironie des Sports im Jahr 2025: Er will die Welt, bekommt aber kaum die Zuschauer aus der Stadt.

Die «Hand Schönmaiers»

Für emotionale Momente sorgte Karina Schönmaier. 20 Jahre alt, Deutsche mit russischen Wurzeln, mutig. Sie zeigte im Sprungfinale erstmals ihren neuen Cheng. Wer ihn beherrscht, sagt man, zählt zur absoluten Weltklasse am Sprung. Schönmaier präsentierte ihn sogar technisch brillant, spektakulär, aber – das zeigten die Bilder klar – mit nur einer Hand auf dem Tisch. Zwei Punkte Abzug, korrekt. Keine Verschwörung, kein Skandal. Nur ein kurzer Moment, der zeigt, wie gnadenlos dieser Sport ist, wenn er einmal funktioniert. Kein Raum für Emotionen, nur Präzision.

Die Kampfrichter in Jakarta entschieden richtig. Ihr Verband dagegen nicht. Dass Fairness im Kleinen funktioniert, während sie im Großen scheitert, ist die vielleicht bitterste Pointe dieser WM. Das IOC hat immerhin reagiert: Wer keine Visa garantiert, bekommt keine Spiele mehr. Eine Selbstverständlichkeit, die man heute schon als Fortschritt feiern muss. Die FIG dagegen hat sich mit der Behauptung «höherer Gewalt» aus der Verantwortung gewunden – und gezeigt, dass sie die Gewaltenteilung zwischen Moral und Macht längst aufgehoben hat.

Ein ehrliches Bild

Jakarta war keine sportpolitische Katastrophe, aber ein ehrliches Bild: So sieht es aus, wenn man Prinzipien verlegt, dafür aber den Austragungsort behält. Das musste auch der Deutsche Turner-Bund lernen, der - ebenfalls mutig - vorpreschte und die Hand für einen gemeinsamen Widerspruch hob. Doch die sicher geglaubte Unterstützung aus den Alpenländern blieb aus. Die ließen die Nachfahren von Turnvater Jahn eiskalt im Regen stehen. Wer nun glaubt, das Turnen könne sich in so einer Kulisse neu erfinden, sollte noch einmal ganz genau hinschauen. Denn zwischen Balken, Barren und Boden war zweifellos zu sehen, was dieser Sport alles darstellen könnte – gleichzeitig aber auch, was ihm hin und wieder fehlt: Rückgrat.

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Die in diesem Kommentar vertretenen Ansichten sind die des Autors. Sie decken sich nicht zwingend mit der Haltung der Deutschen Turnliga oder ihrer redaktionellen Gremien.

25. Oktober 2025
von Nils B. Bohl

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